Deutschlands Asse haben den 37. Europameisterschaften in Alicante ihren Stempel aufgedrückt. Der siebte Triumph von Timo Boll im Herren-Einzel und der erste Titelgewinn für das Duo Kristin Lang/Nina Mittelham im Damen-Doppel krönte die Bilanz des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB). Am Freitag hatte bereits das Mixed Ruwen Filus/Han Ying Gold gewonnen, zudem durfte sich der DTTB über viermal Bronze (Herren-Einzel, Herren-Doppel, Mixed) freuen und verbesserte seine Gesamtausbeute bei Europameisterschaften auf insgesamt 122 Medaillen (43 x Gold, 26 x Silber, 53-mal Bronze).
Gelungenes Comeback von Timo Boll
Allein 18 der insgesamt 43 kontinentalen Goldmedaillen gehen auf das Konto des besten europäischen Spielers aller Zeiten. Das letzte Mal hatte Boll zuvor im Jahr 2012 im dänischen Herning triumphiert. Im Endspiel von Alicante besiegte der topgesetzte Düsseldorfer nun sechs Jahre später die Turnierüberraschung Ovidiu Ionescu mit 4:1. Nach einer wochenlangen Trainingspause im Sommer in Folge einer Halbwirbelverletzung (Bandscheibenvorfall) steigerte sich Boll bei der EM von Runde zu Runde, ließ Ionescu am Ende nach verlorenem ersten Durchgang keine Chance.
„Es fing schwer an, weil Ionescu viel Gas gegeben hat“, kommentierte Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf die 1:0-Satzführung für den Rumänen und dessen 6:3-Start in Durchgang zwei. „Nach dem zweiten Satz hat Timo das Spiel zu seinen Gunsten gewendet, hatte von da an eine sehr gute Kontrolle über das Spiel. Das war ein hartes Stück Arbeit vor allem nach dem extrem schweren Halbfinale. Es war ein etwas schwerer Start im Finale, aber im Endeffekt ist Timo zum siebten Mal Europameister geworden und nur das zählt.“
Der Mühlhausener TTBL-Akteur Ionescu spielte bei der EM das Turnier seines Lebens, schlug zuvor unter anderem EM-Titelverteidiger Emmanuel Lebesson (Frankreich), Ex-Europameister Vladimir Samsonov aus Weißrussland und hielt in der Vorschlussrunde den Schweden Kristian Karlsson in fünf Durchgängen in Schach. Ionescus Topform bekam auch Timo Boll zu spüren. „Ich bin am Anfang überrannt worden. Da war das gute Gefühl gleich wieder dahin“, beschrieb der Rekord-EM-Champion den Matchauftakt. „Aber ich habe mich ins Spiel hinein gekämpft, bin ruhig geblieben, und das war der Schlüssel zum Erfolg.“
Bolls größter Prüfstein im Turnier: Patrick Franziska
Die größte Mühe hatte Timo Boll im Halbfinale gegen seinen Nationalteamkollegen und guten Kumpel Patrick Franziska. Denn beinahe hätte nicht der Weltranglistenvierte Boll, sondern der in den vergangenen Monaten bis auf Position 16 im ITTF-Ranking vorgerückte Saarbrücker das Finale für Deutschland bestritten. Nach beeindruckendem Auftakt führte der 26-Jährige bereits mit 3:1 nach Sätzen und schien anschließend noch einmal bei 7:3 im Entscheidungssatz auf der Siegerstraße, doch Timo Boll wäre nicht Timo Boll, wäre das Duell der beiden Odenwälder damit entschieden gewesen. „Ich bin ein Kämpfer, ich gebe nie auf, habe zum Ende des Spiels mehr Kontrolle über Bälle bekommen. Das war eine gute Leistung, und die brauchte ich auch, denn Patrick gehört inzwischen zu den Topspielern auf der Welt“, kommentierte der zweimalige World-Cup-Gewinner seine beeindruckende Aufholjagd, die mit acht Punkten in Folge endete. „Es tut mir aber auch leid für Patrick. Wir sind gute Kumpels, er hat vor der EM sogar noch einmal nach einem gemeinsamen Training bei uns übernachtet. Auch meine kleine Tochter Zoey mag ihn gern. Sie hat mir vor dem Finale gesagt, am liebsten wäre ihr ein Unentschieden.“
Dreimal Bronze für Patrick Franziska
Die Enttäuschung über die Niederlage stand Patrick Franziska nach dem Halbfinale deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Doppel-Europameister von 2016, der gestern in der Vorschlussrunde mit dem Dänen Jonathan Groth den neuen Europameistern Robert Gardos/Daniel Habesohn (Österreich) unterlag und zudem im Mixed an der Seite von Petrissa Solja Bronze gewonnen hatte, scheiterte in Alicante auch mit seinem dritten Anlauf auf den Einzug in das Endspiel. Patrick Franziska: „Ich bin natürlich sehr enttäuscht. Eine 3:1-Führung und ein 7:3 im Entscheidungssatz bekommt man gegen Timo nicht alle Tage.“ Nervös sei er nicht gewesen, als Boll Punkt für Punkt seine Aufholjagd startete: „Natürlich steigt mit jedem Punktverlust der Druck, aber ich war bis zum Schluss in einem Tunnel. Ich kann mir keinen Vorwurf machen. Ich muss gegen Timo einfach hohes Risiko gehen, wenn ich gewinnen will. Am Ende sind einfach die Bälle, die vorher noch auf den Tisch gingen, um ein oder zwei cm über den Tisch hinausgeflogen.“ Franziska weiter: „Ich werde darüber hinwegkommen. Heute tut diese Niederlage nach diesem Spielverlauf natürlich weh, morgen freue ich mich über diesen dritten Platz, der mir sehr viel bedeutet. Ich weiß, dass das eine Super-EM für mich war und ich sehr gut gespielt habe. Dreimal Bronze ist ein Riesenergebnis.“
Goldmedaille für Kristin Lang und Nina Mittelham
Noch dramatischer als das Halbfinale zwischen Timo Boll und Patrick Franziska verlief das Endspiel im Damen-Doppel zwischen Kristin Lang/Nina Mittelham und der österreichisch-russischen Kombination Sofia Polcanova/Yana Noskova. In einem Duell auf Augenhöhe hatte das DTTB-Duo nach mehr als einstündiger Spielzeit nach 2:3-Satzrückstand im siebten Satz bei einer 10:8-Führung zunächst zwei Matchbälle für, dann in der Verlängerung bei 10:11 und 11:12 zwei gegen sich. Am Ende setzte sich die Deutschen knapp, aber verdient durch: „Wir wussten, dass wir eine 50:50-Chance hatten. Im Finale war es sehr wichtig, die Initiative gegen unseren Gegner zu übernehmen, um in die offenen Ballwechsel zu kommen. Immer wenn uns das gelungen ist, waren wir im Vorteil. Das haben wir konsequent bis zum Ende versucht und deshalb auch gewonnen.“ Nina Mittelham ergänzt: „Unsere Mischung aus Routine und Jugend hat sich super ergänzt. Wir haben ein sehr starkes Finale gespielt. Ich freue mich sehr, dass mein Mut zum Risiko belohnt wurde. Zwar habe ich bei 10:8 im siebten Satz für uns einen gut liegenden Ball verzogen, dafür aber zweimal bei Matchball gegen uns unfassbare Bälle getroffen.“
Die Goldmedaille an der Seite der erst 21-jährigen Berlinerin Nina Mittelham („Ich kann das überhaupt noch nicht fassen, dass wir jetzt Europameister sind. Wahrscheinlich brauche ich ein paar Tage um zu begreifen, was dieser Titelgewinn bei solch einem wichtigen Turnier bedeutet“), bedeutet für die zwölf Jahre ältere Kristin Lang gleichzeitig die erfolgreiche Verteidigung ihres erstmals 2016 in Budapest (mit Sabine Winter) gewonnenen Titels. Zuvor hatte die ausgebildete Physiotherapeutin mit Wu Jiaduo 2012 und Zhenqi Barthel 2009 zweimal dritte Plätze erreicht. Mittelham ist nun bereits die vierte Partnerin, mit der Lang bei Europameisterschaften erfolgreich ist.
Das für die EM neu formierte Doppel harmonierte in Alicante auf Anhieb glänzend und besiegte bis zum Finale mit den Portugiesinnen Yu Fu/Shiao Jieni, den an Positon zwei gesetzten Rumäninnen Elisabeta Samara/Bernadette Szcos und den Luxemburgerinnen Ni Xialian/Sarah de Nutte drei hoch eingeschätzte Kombinationen. Lang: „Am Anfang der EM haben wir nicht daran gedacht, als Europameister nach Hause zu fahren. Aber wir haben uns von Spiel zu Spiel gesteigert und ich glaube, dass unser Doppel Potential hat. Es ist einfach fantastisch, wie vor zwei Jahren Gold zu holen.“ Lang verteidigte ihren Titel mit nur wenigen Monaten Training nach der Geburt ihrer Tochter Carolin im Januar, die in Spanien zusammen mit Vater Jochen die Matches der Mama von der Tribüne aus verfolgte. „Dass ich so schnell nach der Geburt meiner Tochter wieder auf diesem Level spielen kann, verdanke ich einem guten Zeitmanagement, und vor allem auch der Unterstützung meines tollen Ehemanns. Ohne ihn ginge das gar nicht“, erklärte Lang nach dem Finale das Geheimnis ihres bemerkenswerten Erfolgs.
Li Qian siegt bei den Damen, Gardos Habesohn im Herren-Doppel
Europameister im Herren-Doppel wurde die österreichische Parade-Kombination Robert Gardos/Daniel Habesohn mit einem 4:1-Erfolg über die Schweden Mattias Falck/Kristian Karlsson. An beiden Bronzemedaillen ist Deutschland beteiligt durch Ruwen Filus/Ricardo Walther sowie Patrick Franziska an der Seite seines dänischen Partners Jonathan Groth. Den Titel im Damen-Einzel gewann die Polin Li Qian im Finale mit 4:2 gegen die Ukrainerin Margaryta Pesotska, die überraschend am Samstag die Wahl-Düsseldorferin Han Ying mit 4:0 besiegt hatte. Die Deutsche Meisterin scheiterte ebenso im Viertelfinale wie ihre Nationalmannschaftskolleginnen Sabine Winter und Petrissa Solja.
Sieben Medaillen: DTTB drückt der EM seinen Stempel auf
Dreimal Gold (Herren-Einzel, Mixed, Damen-Doppel) und viermal Bronze (Herren-Einzel, Mixed, zweimal Herren-Doppel) – das ist die stolze Bilanz der deutschen Starter in Spanien, die den Europameisterschaften ihren Stempel aufdrückten. „Was für eine tolle EM“, freut sich DTTB-Präsident Michael Geiger und rechnet vor: „Mehr als die Hälfte aller fünf Finals gewonnen. Mehr als ein Drittel aller 20 zu vergebenden Medaillen gewonnen. Glückwunsch und Danke an unser tolles DTTB-Team.“
Einzig im Damen-Einzel ging der Deutsche Tischtennis-Bund diesmal leer aus. An der überaus positiven Bilanz von DTTB-Sportdirektor Richard Prause ändert dies nichts. Prause: „Dreimal Gold und viermal Bronze, das ist ein wirklich hervorragendes Ergebnis. Ich möchte die EM aber nicht nur an den selbstverständlich starken Leistungen aller Medaillengewinner festmachen. Auch, beispielsweise der Erfolg von Benedikt Duda, über Simon Gauzy nach 6:10-Rückstand im Entscheidungssatz war einer der Momente, die noch im Nachhinein Gänsehaut bei mir auslösen. Wir waren mit fünf Herren und vier Damen im Achtelfinale vertreten, mit jeweils drei Spielern im Viertelfinale. Das ist sehr aussagekräftig für unsere Stärke in Europa. Dass es bei den Damen im Einzel trotz dreier Chancen nicht zu einem Medaillengewinn gereicht hat, ist etwas schade. Allerdings muss man auch sagen, dass wir in diesem Wettbewerb keinen der vier Topgesetzten gestellt haben. Die verpasste Medaille im Damen-Einzel ist aber sicher ein Ansporn, es in diesem Bereich in zwei Jahren noch besser zu machen.“
Quelle: Deutscher Tischtennisbund / Tischtennis.de