Ganze fünf Worte benötige Jörg Roßkopf, um eine Woche Weltmeisterschaft voller emotionaler Höhen und Tiefen auf den Punkt zu bringen. „Dieses Silber glänzt wie Gold“, diktierte der Bundestrainer des Deutschen Tischtennis-Bundes den Medienvertretern in die Aufnahmegeräte. Unmittelbar zuvor hatten Chinas Tischtennis-Herren bei den Team-Weltmeisterschaften in Halmstad durch einen 3:0-Erfolg über Deutschland zum neunten Mal in Folge die Goldmedaille gewonnen, der Finaleinzug der Mannschaft von Bundestrainer Jörg Roßkopf war jedoch angesichts zahlreicher Probleme im Vorfeld und während der WM ein ebenfalls herausragendes Ergebnis. Die Auswahl des Deutschen Tischtennis-Bundes sicherte nach 1969, 2004, 2010, 2012 und 2014 zum insgesamt sechsten Mal bei Mannschafts-Weltmeisterschaften die Silbermedaille.
Volles Risiko gegen den Topfavoriten
„Wir haben heute das Maximale versucht, aber es hat gegen die beste Mannschaft der Welt eben aus vielen Gründen nicht gereicht“, analysierte Jörg Roßkopf nach dem Finale. Der Rekordnationalspieler des DTTB, der 2004 in Doha noch an der Seite von Timo Boll Silber gewonnen hatte, entschied sich notgedrungen erstmals bei dieser WM gegen die Aufstellung des angeschlagenen Dimitrij Ovtcharov. Roßkopf: „Dima hat uns geholfen, bis in das Finale zu kommen, mit seiner Verletzung hätte er aber gegen China keine Chance gehabt.“ Der Bundestrainer ging ins Wagnis, stellte seinen Spitzenspieler Timo Boll sofort auf Weltmeister Ma Long, den der 37-Jährige im Oktober 2017 beim World Cup hatte bezwingen können. Roßkopf: „Timo Boll spielt immer gut gegen Ma Long, und wir wollten China sofort zu Beginn des Spiels unter Druck setzen. Wenn sie einmal führen, ist es schwer.“
Boll: „China hat verdient gewonnen“
Boll erwischte jedoch nicht seinen besten Tag, wie der faire Sportsmann neidlos anerkannte: „Heute konnte ich mein Niveau nicht so abrufen, wie ich mir das erhofft hatte. Aber Ma Long hat auch sehr gut gespielt. Wir können sehr zufrieden mit der Silbermedaille sein. Um China zu gefährden, muss man auch physisch in bester Verfassung sein. Das waren wir hier leider nicht und hatten viele Sorgen – Dima, Patricks Verletzung und auch ich. Deshalb konnten wir leider nicht so dagegenhalten, wie das gegen die beste Mannschaft der Welt notwendig gewesen wäre. China hat das Finale heute verdient gewonnen.“
Filus: „Wir können auf unsere Silbermedaille stolz sein“
Ein Punkt von Boll im Auftakteinzel war die Kalkulation, um den Weltranglistenersten Fan Zhendong in seinem Einzel gegen Abwehrass Ruwen Filus zumindest etwas zu verunsichern, nachdem der Fuldaer im Achtelfinale der WM 2017 in Düsseldorf in einer sehenswerten Partie nur in sechs Sätzen unterlegen war. Doch mit dem 1:0 im Rücken spielte Fan fehlerlos auf, wie Filius anschließend neidlos anerkannte: „Unser Plan war, dass Timo vielleicht gegen Ma Long gewinnt und Fan Zhendong dann mit etwas mehr Druck in die Box geht. Ich habe zwar gegen ihn die Sätze ganz gut angefangen, dann hat er mich jedoch sehr gut angespielt und keine Fehler mehr gemacht. Auch wenn wir das Finale verloren haben, können wir stolz auf unsere Leistung bei dieser WM und auf die Silbermedaille sein.“
Patrick Franziska mit einer Weltklasseleistung
Deutschlands Hoffnung auf den Punkt im dritten Einzel musste zu einem Zeitpunkt in die Box, als das Spiel so gut wie entschieden war. Beinahe hätte sich dennoch die Hoffnung erfüllt, dass Patrick Franziska es gegen Doppel-Weltmeister Xu Xin noch besser machen würde als bei den German Open, als der Saarbrücker im Halbfinale knapp mit 2:4 unterlag. Der Doppel-Europameister spielte wie gegen Südkorea sein bestes Tischtennis, stand gegen Xu sogar vor einer 2:0-Führung, bevor der Penholderspieler Satz und Spiel noch drehte und Chinas Siegpunkt markierte. Bundestrainer Jörg Roßkopf lobte Franziska: „Er hat auch wieder sensationell gut gespielt und eine Weltklasseleistung geboten.“ Der Gelobte haderte ein wenige mit dem Spielverlauf: „Es war etwas schade – 8:4 war meine Führung im zweiten Satz. Ich hatte das Gefühl, Xu Xin fehlten die Lösungen – und das ist selten bei ihm. Insgesamt bin ich sehr zufrieden mit dem WM-Turnier.“
Ovtcharov: „Ich bin froh, dass ich der Mannschaft helfen konnte“
Nicht im Team war erstmals bei dieser WM Dimitrij Ovtcharov. Der World-Cup-Sieger half seinem Team bis einschließlich im Halbfinale und trug erheblich zum Gewinn der Silbermedaille bei. Gegen Südkorea wurde im Duell mit Jang Woojin aber auch deutlich, dass es gegen Weltklassespieler nicht reicht, das Spiel weitgehend nur mit der Rückhand zu bestreiten. Mehr aber ließ der Gesundheitszustand Ovtcharovs während der WM nicht zu. Ovtcharov hofft auf eine baldige Genesung: „Zunächst einmal bin ich sehr froh, dass ich unserer Mannschaft trotz meiner Verletzung helfen konnte, das Finale zu erreichen. Leider war mehr nicht möglich. Ich werde nun versuchen, meine letzten Champions-League-Spiele für Orenburg in ähnlicher Weise zu bestreiten, wie hier bei der WM. Danach muss ich die Verletzung in Ruhe auskurieren. Wenn sie auskuriert ist, hoffe ich bald wieder mein altes Niveau zu erreichen.“ Ebenfalls auf der Bank blieb im Finale Bastian Steger, der gegen Slowenien und Brasilien im Einsatz gewesen war: „Wir haben hier ein Team, wo jeder für jeden da ist. Wir haben hier mit Platz zwei unter den gegebenen Voraussetzungen Großes geleistet.“
Roßkopf: „Die WM hätte Ende 2017 sein müssen“
Auch wenn das Silber glänzt wie Gold, die Ambitionen waren ursprünglich andere. Herausragende Ergebnisse im Herbst 2017, darunter Siege von Timo Boll über Weltmeister Ma Long und Lin Gaoyuan, von Dimitrij Ovtcharov über den Weltranglisten-Ersten Fan Zhendong und Lin, mit der dank herausragender Resultate erspielten Wachablösung Chinas an Position 1 der Weltrangliste durch Ovtcharov im Januar und Timo Boll im Februar und März sowie mit dem Halbfinaleinzug von Patrick Franziska bei den German Open untermauerte Deutschland seinen Anspruch, in Halmstadt ernsthaft an Chinas Thron rütteln zu wollen. Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf: „Die WM hätte Ende 2017 sein müssen, dann hätten wir wohl sicherlich einen ernsthafteren Anlauf nehmen können. Jetzt hatten wir viel zu viele andere Probleme.“
Aus der Krankenstation ins Finale
Während des WM-Turniers wandelte sich die perfekte Ausgangssituation für einen ernsthaften Angriff auf den Thron Chinas bis zu den Viertel- und Halbfinalspielen gegen Brasilien (3:1) und Südkorea (3:2) allerdings zwischenzeitlich in die berechtigte Sorge von Bundestrainer Jörg Roßkopf, Cotrainer Lars Hielscher und DTTB-Sportdirektor Richard Prause, überhaupt mit einer Medaille im Gepäck die Heimreise antreten zu können. Roßkopf über sein Wechselbad der Gefühle: „Bei diesen beiden Matches wusste ich beim Frühstück noch nicht, ob ich für den Abend eine Mannschaft zusammenbekomme.“ Akute Ischiasprobleme bei Timo Boll, die sogar den Einsatz des Weltranglistenzweiten gegen Slowenien und im Viertelfinale gegen Brasilien verhinderten und ein Turnieraus befürchten ließen. Eine noch nicht vollständig ausgeheilte Entzündung des Oberschenkelhalses bei Dimitrij Ovtcharov, die den Weltranglistendritten seit drei Monaten zu eingeschränktem Training und nach den German Open sogar zu einer dreiwöchigen Pause zwangen. Eine Oberschenkelzerrung und Muskelverhärtung bei Patrick Franziska, zugezogen im Match gegen Hongkong, die den in glänzender Form spielenden Weltranglisten-30. gegen Slowenien und Brasilien als dritten des fünfköpfigen Teams in die DTTB-Krankenstation beförderten.
Roßkopf: „Die Mannschaft hat Unglaubliches geleistet“
Das Physiotherapeuten-Team des Olympiastützpunktes Hessen mit Birgit Schmidt und Peter Heckert zusammen mit Teamarzt Dr. Antonius Kass hatten in Halmstad vom Turnierbeginn alle Hände voll zu tun. Heilende Hände, wie DTTB-Sportdirektor Richard Prause (Düsseldorf) betont: „Unsere medizinische Abteilung hat hervorragend gearbeitet und dazu beigetragen, dass wir das Finale erreicht haben. Unser Team hinter dem Team, auch in allen anderen Bereichen, hat sehr gut funktioniert.“ Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf zog in Anbetracht der Umstände ein uneingeschränkt positives Fazit der WM 2018: „Die Mannschaft hat hier Unglaubliches geleistet. Die Spieler, die am Tisch standen, ebenso wie die, die auf der Bank Platz nehmen mussten, haben einen unglaublichen Willen gehabt, hier gegen alle Widrigkeiten das Maximale zu erreichen. Ich bin stolz auf meine Mannschaft.“
Herren-Finale
Deutschland – China 0:3
Timo Boll – Ma Long 0:3 (-4,-8,-3)
Ruwen Filus – Fan Zhendong 0:3 (-4,-5,-4,)
Patrick Franziska – Xu Xin 1:3 (9,-10,-7,-5)
Quelle: Deutscher Tischtennisbund (DTTB)